K. Elo: Totalitarismustheorie am Beispiel der Systemkrise in der DDR

Titel
Die Systemkrise eines totalitären Herrschaftssystems und ihre Folgen. Eine aktualisierte Totalitarismustheorie am Beispiel der Systemkrise in der DDR 1953


Autor(en)
Elo, Kimmo
Reihe
Diktatur und Widerstand 10
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

In der vorliegenden Studie nähert sich Kimmo Elo seinem Thema nicht als Historiker, sondern als Politologe mit theoretischer Ambition. Es geht ihm nicht um die Ermittlung des geschichtlichen Geschehens, sondern um die „Metafrage“, was die „politologische Theorie leisten“ kann, um die - einigen einschlägigen Werken entnommenen - historischen Tatbestände im Kontext politischen Wissens insgesamt zu „verankern“. Dabei lehnt er eine vergleichende Betrachtung verschiedener Sachverhalte von vornherein mit der Begründung ab, es gehe „um eine theoretische Aktualisierung eines Forschungsprogramms und um das Testen der für dieses Forschungsprogramm formulierten Propositionen (oder Kriterien)“ (S. 44). Er schlägt mithin die Möglichkeit aus, durch Vergleich auf induktivem Weg zu neuen Einsichten in detailübergreifende Zusammenhänge zu gelangen, und wählt statt dessen den deduktiven Ansatz, eine den Erörterungen zu Grunde gelegte Theorie an Fakten zu demonstrieren, die er gemäß der Darstellung anderer Autoren als gegeben akzeptiert. Als Maßstab erkennt Elo im Prinzip Karl Poppers Falsifikationskriterium an, macht jedoch geltend, dass dieses ein bloß „naiver Falsifikationismus“ sei, da demnach „jede Theorie - ob sechs Monate oder 600 Jahre alt - grundsätzlich als [weiterhin] falsifizierbar“ gelte. Er erläutert, „auch unsinnige, sogar falsche Hypothesen“ ließen „sich mit gezielt gewähltem Beweismaterial bestätigen“. „Mit anderen Worten, Poppers Wissenschaftsbetrachtung enthält keine Theorie des Tests, d.h. der Konstruktion der Beweisketten, die aber als unentbehrlich für eine wissenschaftlich plausible Falsifizierung von Theorien zu betrachten ist.“ Er übernimmt statt dessen den „raffinierten Falsifikationismus“ von Imre Lakatos, dem zufolge „jene Theorie als wissenschaftlich zu akzeptieren“ ist, „die bessere Erklärungskraft hat als die frühere, dasselbe Phänomen zu erklären versuchende Theorie“ (S. 56).

Der in dem Buch vorgelegten Untersuchung der Systemkrise in der DDR vom Juni 1953 wird die Totalitarismus-Theorie von Carl Joachim Friedrich zu Grunde gelegt. Wie Elo mit vollem Recht hervorhebt, ergibt sich aus den drei Definitionen eines totalitären Systems - autokratischer Charakter, völlig neuartige Herrschaftsform von zwar prinzipiell, aber nicht völlig derselben Art - eine strukturbezogene Betrachtungsweise, welche die Möglichkeit von Entwicklungen des Systems nicht aus-, sondern einschließt, wobei zwischen veränderlichen Rand- und nicht veränderlichen Hauptmerkmalen (wenn das System weiter als totalitär gelten soll) zu unterscheiden ist. Unter Hinweis auf das Beispiel von Ländern wie China, die weiterhin ein auf uneingeschränkte Herrschaft abgestelltes System besitzen, aber zu wirtschaftlichem Wachstum und sonstiger Entwicklung fähig sind, warnt Elo vor der Gleichsetzung von Demokratie und Fortschritt einerseits und Totalitarismus/Autoritarismus und Rückschritt andererseits. Als Wissenschaftler müsse man sich von der dogmatischen Vorstellung freimachen, dass die Demokratie das Ziel der Geschichte und folglich der einzige Weg zur Modernisierung sei, um in den Blick nehmen zu können, welche Systeme auf Grund welcher Merkmale diese oder jene Potenziale in sich tragen. Wie wenig vorgefasste Meinungen zur Erfassung der Realitäten taugen, zeige sich etwa daran, dass die frühere Voraussage, ein totalitäres System lasse sich nicht ohne Krieg und Gewalt beseitigen, durch den Zusammenbruch der UdSSR klar widerlegt worden ist.

Den größten Teil seiner Ausführungen verwendet Elo auf die - in Auseinandersetzung mit anderen Autoren erfolgende - Erarbeitung einer eigenen Variante der Totalitarismus-Theorie und auf eine darauf gegründete Bestimmung der Systemmerkmale des SED-Regimes. Ohne auf die vorangegangenen Instruktionen Stalins in den Unterredungen vom 1. und 7. April 1952 einzugehen, die außer der Forcierung der sozialistischen Transformation und Repression auch eine umfassende Militarisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zum Inhalt hatten, beschreibt er dann in der so gewonnenen theoretischen Terminologie die Krise des DDR-Systems, die sich seit den Beschlüssen der II. Parteikonferenz der SED im Juli über den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ entwickelte und mit den Streiks und Unruhen vom Juni 1953 zum offenen Ausbruch kam, sowie den anschließenden Erfolg des Bemühens, diese Vorgänge zu unterdrücken und das System wiederherzustellen.

Es stellt sich die Frage nach dem Ertrag dieser theoretisch-analytischen Betrachtungen. Elo sieht vier zentrale Ergebnisse (S. 203-207). Erstens bestätigten sie „die theoretischen Propositionen, nach denen ein totalitäres System eine besondere totalitäre Dynamik besitzt, die einen kreislaufförmigen Prozess darstellt und maßgeblich von der Struktur beeinflusst wie auch beschränkt“ werde und sowohl zu einer Festigung des Systems als auch zu dessen Auflösung führen könne. Zweitens bestätige die Fallstudie „die theoretische Bedeutung der detaillierten Unterscheidung zwischen System-, Macht- und Akteursstrukturen für eine erweiterte, verbesserte Erkenntnis über die Struktur und Dynamik eines totalitären Systems“. Erst „durch die Berücksichtigung der gesamten totalitären Struktur“ könne „eine annähernd realistische Auffassung über den inneren Zustand und über die Funktionsweise des zu untersuchenden Realtotalitarismus erzielt werden“. Drittens sei der bisher weithin unberücksichtigte „Problemkomplex Normativität/Loyalität“ auch für ein totalitäres System von großer Bedeutung. Er erkläre, wieso die Machtmittel, die den totalitären Machthabern zugeschrieben würden: „das Machtmonopol, ein (fast) uneingeschränktes Sanktionsinstrumentarium und die Möglichkeit, ihre Positionen in Entscheidungsfindungen zu bestimmen“, nicht notwendig eine entsprechende „Durchsetzungskraft“ bedeuteten, wie die feststellbaren Probleme der totalitären Machtausübung zeigten. Viertens hebt Elo die „besondere Problematik der Akteursstruktur“ hervor. Da sich diese nur schwer von oben kontrollieren lasse, weil es nicht einfach sei, die - für eine labile Normativität anfälligen - Akteure zu lenken, greife die „traditionelle Konzentration [der Analytiker totalitärer Systeme] auf die Systemstruktur [...] zu kurz“. Mit großer Wahrscheinlichkeit spiegele sich eine „Erosion in der Akteursstruktur in den anderen Strukturen früher oder später“.

Als abschließendes Untersuchungsresultat hält Elo fest (S. 207f.), dass die von ihm „aktualisierte Totalitarismustheorie in der Lage“ sei, „die zwei zentralsten Anomalien der früheren Totalitarismustheorien ausreichend zu erklären“. Für die Änderungen innerhalb eines totalitären Systems werde der Rahmen geboten, der es erlaube, „Änderungen der Methoden und Mechanismen der Machtausübung, d.h. des Schutzgürtels, und des sozialen Aufbaus, d.h. der Macht- und Akteursstrukturen, zu analysieren.“ Zum anderen werde „die totalitäre Struktur als primäre Erklärung hervorgehoben“: Die totalitären Machthaber reagierten mit Veränderungen, durch welche die totalitäre Struktur aufrechterhalten bzw. regeneriert werden solle, sowohl auf eingetretene Strukturerosionen als auch auf die „Versuche bestimmter aktiver Akteure, die totalitäre Struktur zuungunsten einer nicht-totalitären Struktur zu transformieren“.

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